Als ich überlegte, ein Gespräch zum Thema „Shared Leadership“ zuführen, musste ich sofort an Michael denken. Er ist kein typischer Geschäftsführer – und das nicht nur, weil er heute eine Organisation leitet, die Sterben, Trauer und schwere Krankheit ins gesellschaftliche Licht rückt. Der gebürtige Hamburger hat schon als Geschäftsleiter Personal und CSR des FC St. Pauli, als Geschäftsführer von NestWerk e.V. oder als Verantwortlicher für das gesellschaftliche Engagement einer Großbank gezeigt, dass ihn vor allem eines antreibt: der Mensch im Mittelpunkt. Seit 2022 verantwortet er als Tandem mit seinem Kollegen Miro Miletic die Geschäftsführung von Hamburg Leuchtfeuer, einer gemeinnützigen Organisation, die genau dafür steht – für gelebte Menschlichkeit.
Im Interview spricht Michael über sein Modell der geteilten Führung und warum er als Geschäftsführer nicht mehr allein entscheiden will. Weshalb Vertrauen auch ohne lange Vorgeschichte funktioniert. Und wie Führung sich verändern muss, wenn wir es mit echter Komplexität und echter Verantwortung zu tun haben.
Katharina: Michael, wenn ich über Shared Leadership spreche, dann seid ihr bei Hamburg Leuchtfeuer für mich das Paradebeispiel. Ihr lebt geteilte Führung nicht nur, ihr benennt es auch klar und steht dazu. Warum habt ihr euch entschieden, die Geschäftsführung zu teilen?
Michael: Die Entscheidung war letztlich eine Konsequenz aus den Anforderungen, die wir an unsere Organisation und an uns selbst stellen. Als ich vor drei Jahren als alleiniger Geschäftsführer bei Hamburg Leuchtfeuer gestartet bin, wurde mir ziemlich schnell klar: Das ist zu komplex für eine Einzelperson. Es ging dabei nicht um eine interne Krise – es war eher die Summe an äußeren Einflüssen: Folgen von Corona, Fachkräftemangel, neue Anforderungen an Führung, Digitalisierung, Finanzierungsdruck. Gerade im Non-Profit-Bereich ist das Spannungsfeld riesig.
Themen wie Personalentwicklung, strategische Ausrichtung und Finanzen – das alles verlangt inzwischen unterschiedliche Expertisen. Es ist schlichtweg nicht sinnvoll, wenn nur eine Person auf all diese Bereiche schaut. Und so entstand die Idee: Warum nicht die Führung teilen?
Katharina: Wie habt ihr das konkret umgesetzt?
Michael: Wir haben uns für ein Modell mit zwei Geschäftsführungen entschieden, jede mit einem eigenen inhaltlichen Schwerpunkt – mein Kollege Miro Miletic verantwortet Finanzen und Controlling, ich den Bereich Personal und Strategie. Aber: Wir treffen alle wesentlichen Entscheidungen gemeinsam. Der jeweilige Themen-Lead bringt seine Expertise ein, aber keiner entscheidet allein. Das ist uns wichtig.
„Vertrauen entsteht im Tun.“
Katharina: Das klingt nach viel Abstimmung. Kommt ihr da nicht in sehr lange Entscheidungsprozesse?
Michael: Das war eine der größten Sorgen – sowohl bei uns als auch bei anderen in der Organisation. Aber in der Praxis funktioniert das gut. Wir haben eine klare Regel: Wer angesprochen wird, entscheidet – es sei denn, das Thema ist besonders komplex oder von großer Tragweite. Dann nehmen wir es auf die Agenda unseres wöchentlichen Jour fixe. Das ist kein Plausch, sondern ein fokussiertes Entscheidungsmeeting. Wir bereiten die Themen strukturiert vor, lesen uns vorher ein und treffen dann zügig Entscheidungen. Im Alltag funktioniert das sehr effizient. Jeder von uns hat die Kompetenz, eigenständig zu entscheiden, aber wir wissen auch, wann es gut ist, nochmal die Perspektive des anderen einzuholen.
Katharina: Du hast deinen Kollegen Miro vorher gar nicht gekannt. Wie ist es gelungen, so schnell Vertrauen aufzubauen?
Michael: Das ging tatsächlich erstaunlich schnell. Ich dachte anfangs, wir bräuchten eine langfristige Begleitung durch Coaches, regelmäßige Workshops – das ganze Programm. Letztlich hatten wir drei zweistündige Termine mit einer externen Begleitung, um unsere Rollen, Verantwortlichkeiten und Entscheidungsprozesse zu klären. Danach war die Grundlage gelegt.
Viel wichtiger ist aus meiner Sicht der Alltag: Wir arbeiten im selben Büro, haben feste Rituale, sprechen täglich miteinander. Vertrauen entsteht nicht auf dem Papier, sondern im Tun. Natürlich hilft es, wenn man menschlich miteinander kann. Wir haben schon im Bewerbungsgespräch gemerkt, dass die Chemie stimmt, obwohl wir sehr unterschiedliche Persönlichkeiten sind.
„Wir brauchen keine allwissenden Alphatiere mehr, sondern Führung als Dialog.“
Katharina: Was hast du über dich selbst gelernt, seit ihr gemeinsam führt?
Michael: Ziemlich viel. Zum Beispiel, dass man Vertrauen nicht auf lange Kennenlernprozesse beschränken muss. Ich war vorher immer allein unterwegs – als Geschäftsführer oder in anderen Führungsrollen. Jetzt habe ich gemerkt: Vertrauen lässt sich auch in kurzer Zeit aufbauen, wenn die Haltung stimmt. Und: Ich muss nicht immer recht haben. Das klingt banal, aber es ist ein Lernprozess. Sich zurücknehmen zu können, Entscheidungen auch mal abzugeben und nicht alles kontrollieren zu wollen – das war eine wichtige Erkenntnis für mich.
Katharina: Was braucht es an Haltung, damit Shared Leadership wirklich funktioniert?
Michael: Offenheit. Und den Willen, zuzuhören, Argumente des anderen ernst zu nehmen. Viele Führungskräfte hängen noch in einem sehr traditionellen Führungsverständnis fest – der eine Mensch an der Spitze, der alles entscheidet. Ich halte das für überholt. Wir brauchen keine allwissenden Alphatiere mehr, sondern Führung als Dialog. Dafür muss ich bereit sein, auch meine Zweifel, Sorgen und Unsicherheiten zu teilen. Nur dann wird Führung menschlich – und wirksam.
Katharina: Und was sagt die Organisation dazu? Gab es Widerstände?
Michael: Am Anfang schon – zumindest Irritation. Zwei Geschäftsführer? Wie soll das gehen in der Praxis? Wer entscheidet jetzt eigentlich? Aber das hat sich sehr schnell gelegt. Heute wird das Modell als echter Vorteil gesehen. Denn es ist immer jemand da, der entscheidungsfähig ist – auch im Krankheitsfall oder im Urlaub. Die Rückmeldungen sind ziemlich positiv.
"Manchmal ist es wichtiger, eine gute Richtung zufinden, als sofort die perfekte Lösung zu haben."
Katharina: Was rätst du Organisationen, die überlegen, Shared Leadership einzuführen? Was ist der wichtigste erste Schritt?
Michael: Sich bewusst zu machen, dass es nicht nur eine strukturelle Veränderung ist, sondern ein kultureller Wandel. Shared Leadership heißt auch: Verantwortung teilen, Hierarchien abbauen, Transparenz zulassen. Das ist eine Frage der Haltung – nicht nur der Organigramme. Und man sollte ehrlich prüfen, ob die Komplexität der Aufgaben wirklich nach mehreren Perspektiven verlangt. Und – ganz pragmatisch –: Kann ich mir das leisten? Wir arbeiten beide in Teilzeit. Das funktioniert bei uns gut, aber es erfordert ein Umdenken: Muss eine Geschäftsführung 24/7 verfügbar sein? Oder reichen 30 bis 40 Stunden, wenn sie gut genutzt sind?
Katharina: Du hast eben von Spannungsfeldern gesprochen. Gerade bei euch, als gemeinnützige Organisation, die auch wirtschaftlich arbeiten muss, gibt es ja viele davon. Wie geht ihr damit um?
Michael: Ein gutes Beispiel ist unser Leitsatz: „Unternehmen Menschlichkeit“. Das bringt es auf den Punkt. Wir tragen wirtschaftliche Verantwortung für rund 74 Mitarbeiter*innen. Gleichzeitig stehen bei uns Menschen im Mittelpunkt – Klient*innen, Bewohner*innen, Förder*innen, Ehrenamtliche, das gesamte Team. Das erzeugt ein ständiges Spannungsfeld: zwischen Effizienz und Empathie, zwischen Kosten und Werten.
Wir haben das nicht aufgelöst – wir sprechen darüber. Offen, ehrlich. Und wir haben gemeinsam mit dem Team drei Werte formuliert, an denen wir uns orientieren: Solidarität, Verbundenheit und Professionalität. Diese Werte helfen uns, Konflikte einzuordnen und Entscheidungen zu treffen, ohne einfache Antworten zu erwarten. Manchmal ist es wichtiger, eine gute Richtung zu finden, als sofort die perfekte Lösung zu haben.
Katharina: Siehst du Shared Leadership als logische Konsequenz,wenn man Agilität und Partizipation ernst meint?
Michael: Für mich persönlich: ja. Aber ich würde nie behaupten,dass es die einzig richtige Lösung ist. Es hängt von der Organisation ab, von der Kultur, vom Kontext. Shared Leadership ist eine Möglichkeit – eine, die viel Potenzial birgt, wenn man sie konsequent denkt. Aber sie funktioniert nur, wenn man bereit ist, das eigene Ego ein Stück zurückzustellen.
Ich für meinen Teil kann mir nicht mehr vorstellen, allein an der Spitze zu stehen. Dafür ist unsere Welt zu komplex, die Unsicherheit zu groß. Und die Chancen, im Team bessere Entscheidungen zu treffen, sind einfach zu wertvoll.
Katharina: Danke für das Gespräch, lieber Michael!
Michael ist Teil von Hamburg Leuchtfeuer – einem Ort, an dem Menschlichkeit gelebt wird.
Ich finde es stark und wichtig, was diese Organisation leistet: Menschen in schweren Lebensphasen beizustehen – mit Zeit, Empathie und Haltung.
Wer Hamburg Leuchtfeuer unterstützen möchte:
Spendenkonto:
Hamburg Leuchtfeuer
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Für alle, die echte Menschlichkeit stärken wollen.
Weiter Informationen über Hamburg Leuchtfeuer findest du hier: www.hamburg-leuchtfeuer.de